VIVA LA VULVA

TV-Dokumentarfilm / Österreich 2019
HD 16:9 Stereo, 52 min.

Buch und Regie: Gabi Schweiger ⋅ Kamera: Eva Testor ⋅ Schnitt: Max Kliewer, Niki Mossböck, Samira Ghahremani ⋅ Ton: Eva Hausberger ⋅ Schnittassistenz: Georg Vogler ⋅ Colour Grading: Lukas Lerperger ⋅ Produktionsleitung: Catrin Freundlinger ⋅ Kameraassistenz: Judith Benedikt, Christian Flatzek ⋅ Musik: Marcus Nigsch

Produktion: NGF – Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH in Koproduktion mit ORF, arte

Mit Unterstützung von: Fernsehfonds Austria ⋅ Filmfonds Wien

nominierungen/preise

Franz-Grabner-Preis 2020 als "Beste TV-Doku" im Rahmen der Diagonale 2021

zitate

Es gab wirklich diese Idee der Frau als einer Maschine, die ganz schnell durchdreht, und deshalb müssen wir sie beschützen… natürlich nur bestimmte Frauen, also nicht die Frauen der Arbeiterklasse, die müssen nicht beschützt werden, die wollen schon gerne die harte Arbeit leisten. Wenn ich als Frau in dieser Gesellschaft gelebt hätte, wäre ich auch so genervt und am Ende gewesen und so frustriert und unterfordert, ich wär auch in Ohnmacht gefallen.

Um 1800 herum ist Saartje Baartman nach Europa gebracht worden. Sie war eine Khoisanfrau aus Südafrika, und sie ist wirklich ausgestellt worden in dieser Art "Völkerschauen", und die Leute haben in erster Linie ihre Vulva und ihren Po angeschaut. Das Besondere an ihrer Vulva waren halt die langen inneren Schamlippen. Und ich habe tatsächlich in Broschüren von Kliniken, die Labioplastik, die Schönheitschirurgie anbieten, Zeichnungen von Saartje Baartmans Vulva gefunden, mit dem schönen medizinischen Begriff "Hottentottenschürze" beschrieben, und dann wird irgendwie erklärt, das ist nicht schön, das ist die falsche Vulva und die muss operiert werden. Das ist ja faszinierend, dass wir plötzlich eine Norm haben, wie hat eine richtige Vulva auszusehen.
Mithu M. Sanyal (Kulturwissenschaftlerin)

In allen islamischen Gesellschaften, von Marokko bis Indonesien, können wir feststellen, dass das Thema Sexualität extrem tabuisiert und kontrolliert wird. Und was macht das mit den Menschen? Das macht mit den Menschen, dass dann dadurch eine Übersexualisierung stattfindet, das heißt, der ganze Alltag wird sexualisiert. Man achtet darauf, dass Männer und Frauen nicht zusammenkommen, weil man der Ansicht ist, dass, wenn Mann und Frau zusammenkommen, dann ist ja auch der Teufel dabei und es kommt sofort zu sexuellen Handlungen. Und das führt dazu, dass eine ständige Kontrolle stattfindet, um die Geschlechter auseinanderzuhalten. Und daher haben wir eine extreme Geschlechterapartheid und auch eine Kontrolle von Sexualität. Und das macht Menschen unfrei.
Seyran Ateş (Rechtsanwältin, Autorin, Imamin)

Sexualität, die vermeintlich natürlichste Sache der Welt, hat sich historisch entwickelt. Deshalb ist sie auch immer ein Ausdruck dessen, was uns die Gesellschaft gerade erlaubt oder nicht erlaubt. Offensichtlich gibt es eine tief verwurzelte Angst vor weiblicher Lust. Die Lust und die Sexualität der Frau wurden total diktiert. Die Frau, die zu lustvoll – natürlich in den Augen des Mannes – war, die war nymphoman. Die Frau, die zu lustlos war, die war frigide. Weibliche Lust ist Autonomie, also Macht. … Frauen haben heute viel mehr Freiheiten als je zuvor. Aber es sind immer noch viele Normen und Zwänge, denen Frauen unterliegen.
Sandra Konrad (Autorin)

Die meisten Frauen lassen ihre Töchter beschneiden, damit sie als Teil der Gemeinschaft akzeptiert werden. Wenn man nicht beschnitten ist, wird man schlechter als ein Stück Vieh behandelt. Man kann zum Beispiel nicht heiraten. Die Familie des Mannes würde eine Frau, die nicht beschnitten ist, niemals akzeptieren, weil man denkt, dass eine unbeschnittene Frau Unglück über die Familie bringt. Und man wird auch nicht zu Feiern eingeladen und darf alten Menschen nicht die Hand geben. Es ist sehr hart, so zu leben.
…Als wir angekommen sind, waren 50 kleine Mädchen im Hof. An dem Nachmittag haben wir gespielt, gesungen und getanzt. Aber am nächsten Tag haben wir nur noch geschrien und geweint. Ich kann mich genau erinnern, weil wie soll man das vergessen, wenn ein Messer oder eine Klinge in die empfindlichste Stelle deines Körpers schneidet.
Fatou M. Diatta „Sister Fa“ (Musikerin, Aktivistin gegen Genitalverstümmelung)

Ich finde, wir leben in einer nur scheinbar sexuell befreiten Gesellschaft. Wir haben den Eindruck, in einer sexuell befreiten Gesellschaft zu leben, einfach, weil Sex omnipräsent ist. In der Werbung, im Fernsehen, in der U-Bahn, im Internet, einfach überall. Das heißt aber auch, dass wir von Klischees umgeben sind und durch neue sexuelle Normen und Zwänge beschränkt werden. Man ermutigt uns nicht, Gefallen und Lust an unserem weiblichen Körper zu empfinden, so wie er ist, sondern wir sollen der Norm entsprechen.
Sexualität ist heute kein Tabu mehr. Dinge, die früher verboten waren, wie Fellatio, gehören jetzt aber zum Pflichtprogramm. Fellatio war ein Tabu und jetzt ist es obligatorisch, das heißt, wir sind vom moralischen Verbot direkt zu einer Verpflichtung übergegangen. Wir müssen alles ausprobieren und sexuell sehr freizügig sein. Es ist uns nicht gelungen, den Moment der wahren Freiheit, der zwischen dem Verbot und der Verpflichtung liegt, zu ergreifen. Dieser Moment der Selbstbestimmung ist uns entglitten.
Ovidie (Regisseurin, Schauspielerin, Autorin)

stimmen zum film

Immer noch scheint sich alles um die Ikonisierung des männlichen Penis zu drehen. Die Vulva, in ihrer Gesamtheit und nicht nur auf ein Loch reduziert, ist in unserer Kultur nicht vorhanden, weder sprachlich noch als Metapher wie zum Beispiel das allgegenwärtige "Phallische". Das geht sogar so weit, dass auch heute immer noch kaum jemand weiß, wie eine Klitoris tatsächlich aussieht.

Doch der Umgang mit der Weiblichkeit war nicht immer so. Wir erfahren von der Rolle der Vulva in alten Mythologien, von der griechischen bei Homer bis zur japanischen. Die Vulva war es, die die Welt retten konnte. Denn aus ihr kommt das Leben. Auch im Hinduismus war es die Göttin Durga, die zur siegreichen Göttin Kali wurde, indem sie alle anderen Göttinnen in ihre Vulva saugte. Ein sehr machtvolles Bild. Zu machtvoll für eine patriarchale Gesellschaft?
(…)
Auf der anderen Seite gibt es immer noch den Kampf gegen das grausamste Werkzeug einer Gesellschaft, um Frauen zu unterdrücken: die rituelle Beschneidung der Vulva. Die Senegalesin Fatou Mandiang Diatta rappt unter ihrem Künstlernamen "Sister Fa" gegen die Genitalverstümmelung im Namen der Familienehre an. Es betrifft immer noch 94% der Mädchen in ihrem Land. Wie immer, wenn es um Rechte geht, geht es um Wissen. Und langsam, langsam beginnt ein Umdenken. Die Aktivistin Seyran Ate plädiert für eine sexuelle Revolution des Islam und die Gleichstellung von Mann und Frau als Grundpfeiler und Wegbereiter für demokratische Verhältnisse. Wie kann sich Weiblichkeit als das, was sie ist, darstellen, ohne dafür bestraft zu werden? Und welche Rolle spielen dabei patriarchale Strukturen und männlich geprägte Weltreligionen?

Der erste Schritt dazu wäre wohl die Anerkennung von Diversität der Meinungen, der Bedürfnisse und des Aussehens. Auch jene der Vulven.
Heidi List

*****

Das ist wohl das Rätselhafteste an diesem Film: Er behandelt das Sexualproplem Nr.1, die Frau, das unbekannte Wesen, um nicht zu sagen: das weibliche Bermudadreieck, das auch für Generationen von Frauen terra incognita war. Und immer noch ist. Das beinhaltet, wie jedermann, der hin und wieder eine Zeitung aufschlägt, weiß, Zurichtung, Unterdrückung, Entfremdung, Verstümmelung, Vergewaltigung, Mord und Totschlag, endlos unschöne Sachen. Die von Gabi Schweiger und ihren Expertinnen ausführlich besprochen werden. Seyran Ateş und Fatou M. Diatta ("Sister Fa") übernehmen den schlimmsten Part, Sandra Konrad redet "nur" über das Sexualverhalten junger mitteleuropäischer Frauen in der Gegenwart, aber auch dabei könnte einem (einer sowieso) jede Lust vergehen: zwanghaftes Nachspielen von stereotypen Sexfilmen ist angesagt, man glaubt es nicht.

Und dennoch und trotz alledem, das ist das Rätsel, das Wunder dieses Films, atmet "Viva la Vulva" eine schwerelose Leichtigkeit, kommt Gabi Schweigers Meisterwerk wummernd und vibrierend vor Erotik daher. In keiner einzigen Sekunde dieser 52 Minuten vergisst dieser Film, dass es hier um Sex geht, um Lust, um Hingabe, ums grenzenlose Sichverlieren.
Paul Casimir Marcinkus

medien

Mehr Infos auf der GEYRHALTER-Website

ORF 2 (24.02., 23.05 Erstausstrahlung)
arte (1. Termin 06.03., 22.15; nächste Ausstrahlung am 18.08.)

Interview Wiener Zeitung
Geyrhalter-Pressetext
Ankündigung bei RTR